EIR verurteilt Morddrohungen gegen ukrainische Ökonomin Witrenko
Die Nachrichtenagentur EIR veröffentlichte am 6. Juli eine öffentliche Erklärung mit dem Titel „Verleumdungskampagne in den Medien löst Morddrohungen gegen die ukrainische Ökonomin Witrenko aus: Wo bleibt der Schutz der Menschenrechte in der Ukraine?“ Der Originaltext auf Englisch als pdf ist hier verfügbar.
Wo bleiben die Menschenrechte in der Ukraine? Verleumdungskampagne in den Medien löst Morddrohungen gegen ukrainische Ökonomin Witrenko aus
Eine bösartige Verleumdungskampagne gegen Dr. Natalja Witrenko, eine bekannte ukrainische Wirtschaftswissenschaftlerin, ehemalige Parlamentsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende der verbotenen Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine (PSPU), bringt ihr Leben in Gefahr. Dies zeigt, wie weit die derzeitige Regierung der Ukraine von „demokratischen Normen” oder „Rechtsstaatlichkeit” entfernt ist.”
TSN.ua, ein Internet-Fernsehsender der 1+1 Media Group, hat ein zehnminütiges Video produziert, das zur Verhaftung oder Ermordung von Witrenko aufruft. Das Video erschien am 3. Juli auf YouTube und hat auf dem Kanal von TSN mehr als 280.000 Aufrufe. Dutzende andere Kanäle und Webseiten griffen das Video auf oder veröffentlichten Zusammenfassungen.
Schlagzeilen wie „Schock! Seht euch Witrenko jetzt an ... Wo ist der SBU?“ (der ukrainische Sicherheitsdienst) und „Anhängerin der ‚russischen Welt‘ in der Hauptstadt unterwegs!“ sollen offenbar die Wut der Zuschauer schüren. Der TSN-Reporter schloß mit empörter Stimme: „Wir sehen, daß sie frei ist, daß es ihr gut geht, daß sie ruhig durch die Innenstadt von Kiew spaziert, direkt neben dem Hauptbüro der Polizei und nur 300 oder 400 Meter vom SBU entfernt!“ Der Moderator eines Folgevideos auf Oboz.ua fragte die Zuschauer: „Gefährdet die Anwesenheit solcher Menschen im Land die Ukraine?“ Die Videos lösten Kommentare von YouTube-Zuschauern aus wie „Warum ist sie noch am Leben?“
Der TSN-Beitrag stellte mehrere Unwahrheiten als Tatsachen dar: daß gegen Witrenko „strafrechtliche Ermittlungen“ wegen Hochverrats und Förderung des Separatismus eingeleitet worden seien; daß ihre PSPU „direkt aus Rußland finanziert“ worden sei; daß Witrenko „die ukrainische Sprache ablehne“; daß sie 2014 persönlich in das ostukrainische Slawjansk gereist sei, um dort Referenden für die Abspaltung zu organisieren; und daß sie nach 2014 in die Russische Föderation gezogen sei. Witrenkos politische Ansichten, wie ihre Ablehnung der wirtschaftlichen Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) für die Ukraine in den 1990er Jahren und ihre Kampagne gegen den NATO-Beitritt in den 2000er Jahren, werden als angeblicher Beweis dafür präsentiert, daß sie für Rußland arbeite.
Es fehlt jeder Hinweis auf Witrenkos 30jährige Arbeit an Vorschlägen für Wirtschaftsprogramme zur Rettung der ukrainischen Industrie vor dem Ruin seit der ersten Privatisierungswelle nach der Unabhängigkeit 1991 und auf ihre Kampagnen zum Schutz der ukrainischen Wissenschaftler und Fachkräfte als wichtigste Ressource des Landes. Kein Wort von dem Respekt, den sie sich durch ihre Reden auf internationalen Konferenzen erworben hat, wo sie konkrete Maßnahmen für eine Reform des Weltfinanzsystems durch ein Neues Bretton Woods und die Beteiligung der Ukraine an globalen Infrastrukturprojekten befürwortete. Ebensowenig wird erwähnt, daß Witrenko vor der Präsidentschaftswahl 2019 ihre Anhänger dazu aufrief, Wolodymyr Selenskyj zu wählen, weil er als Kandidat für Frieden auftrat.
Natalja Witrenko, Doktor der Wirtschaftswissenschaften, war von 1994 bis 2002 Mitglied der Werchowna Rada (Parlament) der Ukraine. Als Präsidentschaftskandidatin erreichte sie 1999 etwa 11 Prozent der Stimmen, obwohl ein brutales Attentat auf sie verübt wurde, bei dem 45 Menschen verletzt wurden und ihr Wahlkampf unterbrochen werden mußte. Mehr als tausend Mitglieder und Anhänger der PSPU wurden in kommunale Gremien gewählt. 2019 gewann die PSPU einen fünfjährigen Rechtsstreit gegen das Justizministerium, das ihre Neuregistrierung gemäß den nach 2014 erlassenen „Entkommunisierungsgesetzen” blockiert hatte, wonach politische Parteien alle positiven Verweise auf die Sowjetzeit aus ihren offiziellen Dokumenten streichen mußten.
Der Fall Witrenko: Mißbrauch der Gerichte
TSN filmte Witrenko und Wolodymyr Martschenko, den ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der verbotenen PSPU und dreimaligen Rada-Abgeordneten (1990-2002), am 2. Juli beim Verlassen des Bezirksgerichts Petschersk in Kiew. Sie hatten dort Witrenkos Berufung in dem jüngsten von mehreren Verwaltungsverfahren eingereicht, die die Nationale Agentur für Korruptionsbekämpfung (ukrainische Abkürzung NAZK) gegen sie eingeleitet hat. Große Medien waren wegen dort eines anderen Falles um den Ex-Gouverneur der Region Dnipropetrowsk und ehemaligen Geldgeber Selenskyjs, Ihor Kolomoisky, der nun wegen „Hochverrats“ angeklagt ist.
Die Ex-Abgeordneten Witrenko und Martschenko wurden erkannt und gefilmt. In dem verleumderischen Video, in dem das kurze Filmmaterial vom 2. Juli und Witrenkos Ablehnung der Beantwortung von Fragen des Reporters im Mittelpunkt steht, wird auch darüber gespottet, daß sie gegen die geringe Geldstrafe der NAZK Einspruch erhob.
Der Zweck der NAZK-Verfahren ist jedoch offensichtlich nicht, kleine Geldstrafen einzutreiben. Witrenko droht die offizielle Einstufung als „korrupte Person“, was ihr jede weitere politische Tätigkeit verbieten würde. Die erste Beschwerde der NAZK gegen Witrenko, die Ende 2024 eingereicht wurde, bezog sich auf die Nichtvorlage von Berichten über Vermögen, Einnahmen, Ausgaben und finanzielle Verpflichtungen der verbotenen PSPU (die 2022 ihre Tätigkeit eingestellt hat). In dem Berufungsantrag wird eingewandt, daß Witrenko in Abwesenheit verurteilt wurde, weil das Gericht sie nicht über das Verfahren informiert hatte, und daß sie in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende einer sog. „Liquidationskommission” der PSPU angeklagt wurde, obwohl sie von dieser Position nichts wußte, geschweige denn sie angenommen hatte.
Diese Farce, die die NAZK jedes Vierteljahr wiederholt, ist in der EIR-Dokumentation Kiews Mißachtung grundlegender Freiheiten und des Rechtsstaats muß aufhören! vom 17. Januar 2025 zusammengefaßt.
Des weiteren gibt es Belege dafür, daß die derzeitige Regierung der Ukraine die Gerichte mißbraucht, um jede politische Opposition zum Schweigen zu bringen - sowohl ehemals prominente Persönlichkeiten als auch politische Exilanten, die im Land Unterstützung erhalten könnten, wenn man sie zurückkehren läßt. So verurteilte z.B. ein ukrainisches Gericht im Juni den in Spanien lebenden Blogger Anatolij Scharij in Abwesenheit wegen „Hochverrats” auf der Grundlage von jahrealten Videos, in denen er den SBU kritisiert hatte. Die von seinen Anhängern gegründete „Anatolij-Scharij-Partei“ war eine von elf Parteien, die 2022 per Präsidialdekret und durch Klagen des Justizministeriums verboten wurden.
Das Schiller-Institut faßte in der Dokumentation Das Verbot politischer Parteien in der Ukraine vom September 2022 zusammen, daß in diesen Fällen kein ordnungsgemäßes Verfahren stattfand. Insbesondere verstießen diese Prozesse gegen die „Leitlinien zum Verbot und zur Auflösung politischer Parteien und analoge Maßnahmen“, die von der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) veröffentlicht wurden.
Daß Witrenko auf die provokanten Fragen des TSN-Reporters - „Wie stehen Sie zur ukrainischen Sprache?”, „Erhalten Sie Unterstützung von den Russen?” - nicht antwortete, ist nichts Neues. Die ehemalige PSPU-Vorsitzende gibt seit dem 24. Februar 2022, dem Tag des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine, keine politischen Erklärungen mehr ab. Die einzige öffentliche Äußerung der ehemaligen PSPU-Führung seitdem war die Anfechtung des Verbots ihrer Partei vor dem Obersten Gerichtshof der Ukraine; der Gerichtshof wies viele der von der SBU und dem Justizministerium erhobenen Vorwürfe gegen sie zurück, erhielt aber das Verbot aufrecht. Anschließend legten sie Berufung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ein, der im Juli 2023 mitteilte, daß die Klage zur Prüfung angenommen worden sei; bisher wurde jedoch noch nicht darüber entschieden.
Die Unschuldsvermutung
Die Unschuldsvermutung bis zum rechtskräftigen Nachweis der Schuld eines Angeklagten vor Gericht ist ein wesentlicher Grundsatz jedes Rechtsstaats. Unter Verletzung dieses Grundsatzes haben Beamte des ukrainischen Justizministeriums 2022 die von einem Verbot betroffenen Parteien und deren Führung vor jedem Gerichtsverfahren öffentlich als „Kriminelle“ bezeichnet. Die häufige Charakterisierung der Parteien als „pro-russisch“ durch die Beamten öffnete Tür und Tor für weitere Verleumdungen, die ein negatives politisches Klima für die Prozesse schufen. So wird Natalja Witrenko auf der Webseite der westlich finanzierten NGO „Chesno” (dt. „Ehrliche Wahlen”) in einer Online-Galerie von Personen aufgelistet, die als „Verräter” bezeichnet werden.
Feindeslisten sind in der heutigen Ukraine weit verbreitet. Das Zentrum für Desinformationsbekämpfung (CCD) der ukrainischen Regierung und „private” Projekte wie Myrotworez veröffentlichen solche Listen, und mehrere der dort aufgeführten Personen wurden ermordet.
Staatliche Verleumdungen Unschuldiger werden von den streng kontrollierten Medien der Ukraine übernommen. Die Muttergesellschaft von TSN, die 1+1 Media Group, ist Mitglied der sogenannten „United News”-Allianz, die seit Beginn des Krieges mit Rußland rund um die Uhr einen Telemarathon produziert, um eine Einheitslinie der Medien in der Innen- und Außenpolitik durchzusetzen.
Zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine muß auch ein Ende diffamierender Videos wie der Verleumdungskampagne von TSN gegen Witrenko gehören, die dazu dienen, wütende Reaktionen der Zuschauer und politische oder physische Lynchjustiz gegen die Opfer hervorzurufen.