Der „Orban-Effekt“ – Ende der diplomatischen Verweigerungshaltung?

Der „Orban-Effekt“ – Ende der diplomatischen Verweigerungshaltung?
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Der „Orban-Effekt“ hat diese Woche die Welt in Aufregung versetzt. Die Aktionen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, der nach Kiew flog, um mit dem ukrainischen Präsidenten Zelensky über Frieden zu sprechen, und dann nach Moskau, um dasselbe mit dem russischen Präsidenten Putin zu tun, haben deutlich gemacht, dass es im Westen seit Jahren keine Diplomatie mehr gibt. Ungeachtet dessen, was unmittelbar erreicht wurde und was nicht, äußerte sich Orban wie folgt: "Es sind noch viele Schritte notwendig, um dem Ende des Krieges näher zu kommen. Aber der wichtigste Schritt ist getan – wir haben Kontakt aufgenommen… Ich habe meine Gespräche mit Präsident Putin in Moskau abgeschlossen. Mein Ziel war es, direkte Kommunikationskanäle zu öffnen und einen Dialog über den kürzesten Weg zum Frieden zu beginnen. Die Mission ist erfüllt! Fortsetzung folgt am Montag…“

Es ist nicht klar, was Orban am Montag vorhat, aber am selben Freitag, an dem er nach Moskau flog und sich zweieinhalb Stunden lang mit Putin traf, veröffentlichte die renommierte US-Zeitschrift Newsweek seinen langen Meinungsartikel mit dem Titel "Der Sinn der NATO ist Frieden, nicht endloser Krieg". Darin demonstriert Orban nicht nur ein staatsmännisches Geschichtsverständnis, er wirft der NATO auch Heuchelei vor: „Statt Frieden steht heute Krieg auf der Tagesordnung, statt Verteidigung Offensive. All das widerspricht den Gründungswerten der NATO. … Heute mehren sich in der NATO die Stimmen, die eine militärische Konfrontation mit den anderen geopolitischen Machtzentren der Welt für notwendig, ja unvermeidlich halten. Diese Vorstellung einer unvermeidlichen Konfrontation gleicht einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Je mehr die Staats- und Regierungschefs der NATO glauben, dass ein Konflikt unvermeidlich ist, desto größer wird ihre Rolle bei der Herbeiführung eines solchen Konflikts sein. … Die NATO erfüllt ihren Zweck, wenn sie den Frieden und nicht den Krieg gewinnt. Wenn sie Konflikt statt Kooperation und Krieg statt Frieden wählt, begeht sie Selbstmord.“

Ebenfalls am Freitag erklärte der slowakische Premierminister Robert Fico in seiner ersten öffentlichen Rede seit dem Attentat, bei dem er mehrere Schusswunden erlitten hatte, dass er Orbán bei seinem Besuch in Moskau begleitet hätte, wenn es seine Gesundheit erlaubt hätte. Auf das Gejohle der Kriegstreiber, die sich über Orbáns diplomatischen Akt ereiferten, antwortete Fico: „Es gibt nicht genug, ich wiederhole, nicht genug Friedensgespräche, Friedensinitiativen“. Erst vor sieben Wochen wäre Fico fast ums Leben gekommen, weil er sich weigerte, in die Kriegshysterie einzustimmen.

Im Nachbarland Bulgarien erklärte Premierminister Dimitar Glawtschew von der Übergangsregierung, er werde der NATO nächste Woche die Dienste Bulgariens als Vermittler im russisch-ukrainischen Konflikt anbieten. Und am 4. Juni, nach seiner Rückkehr von der SOZ-Konferenz in Astana, legte der türkische Präsident Erdoğan – der die erfolgreichen russisch-ukrainischen Verhandlungen 2022 vermittelt hatte, bis Großbritanniens Premierminister Boris Johnson in Kiew eintraf und sie stoppte – ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Erneuerung der Diplomatie ab: „Dieser Kampf nützt weder Russland noch der Ukraine. Die einzigen Gewinner dieses Krieges sind die Händler von Blut und Tod. Ich möchte daran glauben, dass es jetzt möglich ist, die Spannungen abzubauen und eine Grundlage für den Frieden zu schaffen. Wir sind bereit, unseren Teil dazu beizutragen, wie wir es bisher getan haben, um diese Basis zu schaffen und zu schützen.“

Der „Orban-Effekt“ ist einerseits einfach eine Stimme, die das Offensichtliche anspricht, nämlich dass das Blutvergießen und der thermonukleare Showdown nur durch Diplomatie beendet werden können, und andererseits eine Stimme, die erkennt, was dem Westen auf der politischen Bühne fehlt. Orban selbst begann die Woche mit der Übernahme der halbjährlich rotierenden EU-Ratspräsidentschaft durch Ungarn, was mehr mit zeremonieller als mit offizieller Macht zu tun hat. Und die drei oben genannten Politiker kommen aus Mitteleuropa, nicht aus Deutschland, Frankreich oder Italien. Und obwohl Orban selbst vielleicht reifer, besonnener und kultivierter ist als der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump, hat er einige ähnliche Schwächen: Er könnte in die Falle tappen, wenn er den israelischen Völkermord verteidigt oder Immigranten für alle Probleme Ungarns verantwortlich macht. Aber im Land der Blinden ist der Einäugige König. Und in dieser Woche hat der Einäugige vielleicht einen schärferen Blick dafür, wie abartig und gefährlich die jüngste Phase der Diplomatieverweigerung im Westen war.


Inhalt

STRATEGISCHE KRIEGSGEFAHR

  • Weißes Haus und NATO sehen Orbáns Moskau-Reise mit gemischten Gefühlen
  • Bulgariens Premier will auf NATO-Gipfel Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine vorschlagen
  • USA sagen Militärübung mit Georgien ab
  • Neuer britischer Premierminister Starmer verspricht Selenskij „unerschütterliche“ Unterstützung
  • Slowakischer Premier Fico unterstützt Orbáns Friedensmission
  • Newsweek über Orbáns Herausforderung der NATO
  • Der russische Senator Dmitri Rogosin im Visier des ukrainischen Molfar-OSINT

NEUES PARADIGMA

  • Erdoğan schlägt Putin erneuerte Getreide-Initiative vor
  • Simbabwe erhält souveräne Währung zurück

ZUSAMMENBRUCH DES IMPERIALEN SYSTEMS

  • Wirtschaftszahlen zeigen: Kein Aufschwung für Deutschland in Sicht

USA UND KANADA

  • Senator Mark Warner will Biden zum Rücktritt drängen

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